Pressestatement von Simone Fischer MdB, Berichterstatterin und pflegepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Gesundheits-versorgung barrierefrei und inklusiv gestalten – konkrete Maßnahmen umsetzen“:
„Die Antworten der Bundesregierung sind enttäuschend und bleiben weit hinter den Erwartungen zurück. Trotz der intensiven Beteiligung vieler Fachverbände und Sachverständiger fehlen verbindliche Aussagen zu Zeitplänen, Zielwerten und Finanzierung. Der im Dezember 2024 vorgelegte Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen droht so zur bloßen Absichtserklärung zu werden.
Die Antwort zeigt, wie groß die strukturellen Lücken in der Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderungen weiterhin sind – mit gravierenden Folgen im Alltag:
- Barrierefreiheit in Arztpraxen: Die Bundesregierung verweist auf Fortschritte, die jedoch überwiegend auf Selbstauskünften beruhen. 36 Prozent der Praxen geben an mindestens ein Merkmal der Barrierefreiheit aufweisen zu können. Es ist davon auszugehen, dass viele Praxen sich für barrierefrei halten, weil sie einen Aufzug haben. In der Realität fehlen aber flexible Behandlungsstühle, barrierefreie Toiletten oder Orientierungshilfen für blinde Menschen. Wer auf einen Rollstuhl, Beatmung oder Assistenz angewiesen ist, findet oft über Jahre keine Praxis, die ihn behandeln kann. Viele ÄrztInnen stoßen an Grenzen, wenn die Behandlung von Menschen mit komplexen Behinderungen mehr Zeit und Ausstattung erfordert, die nicht angemessen vergütet wird. Das schränkt das Recht auf freie Arztwahl ein – Prävention und Behandlung bleiben so für viele unerreichbar.
 
- Frauen und Mädchen mit Behinderungen: Barrierefreie gynäkologische Versorgung bleibt die Ausnahme. Untersuchungsstühle sind oft ungeeignet, Hausbesuche finden kaum statt, und viele Praxen sind weder räumlich noch kommunikativ auf die Bedürfnisse dieser Patientinnen eingestellt. Die Folge: Frauen bleiben ohne Vorsorge, Aufklärung und Behandlung – mit gravierenden Folgen für ihre Gesundheit und Selbstbestimmung. Es braucht verbindliche Vorgaben für barrierefreie Praxen, geeignete Ausstattung und eine angemessene Vergütung des zusätzlichen Aufwands, damit jede Frau medizinische Versorgung erhält – unabhängig von ihrer Behinderung.
 
- Junge Erwachsene mit Behinderungen: Beim Übergang von der Kinder- zur Erwachsenenmedizin („Transition“) bricht häufig die Versorgung weg. Wenn spezialisierte Angebote fehlen, werden notwendige Behandlungen unterbrochen – Familien müssen oft jahrelang selbst nach ÄrztInnen oder Therapien suchen und weite Wege in Kauf nehmen. Die bestehenden Strukturen unterstützen diesen Übergang kaum und führen so zu vermeidbaren Versorgungslücken.
 
- Patientenlotsen: Erfolgreiche Projekte, die Menschen mit komplexen Erkrankungen durch das Gesundheitssystem begleiten, sollen nicht verstetigt werden. Viele verlieren sich weiterhin im System – mit vermeidbaren gesundheitlichen Risiken. Patientenlotsen schaffen Orientierung, entlasten Ärztinnen, Pflege und Angehörige und sichern eine kontinuierliche Behandlung. Dennoch sind seitens der Bundesregierung hierzu keine Maßnahmen geplant. Ohne sie bleibt die Versorgung oft Stückwerk – besonders für Menschen mit chronischen oder psychischen Erkrankungen oder mehreren Behandlungsbedarfen.
 
- Kommunikation und digitale Barrieren: Ein Arztgespräch, das man nicht versteht, ist keine medizinische Versorgung. Wer nicht hören, sehen oder komplizierte Fachsprache verstehen kann, bleibt oft ausgeschlossen – auch digital. Webseiten, Terminportale oder Aufklärungsbögen sind selten barrierefrei. Das betrifft Menschen mit Hör- oder Sehbehinderungen, ältere Menschen und viele, die Unterstützung beim Verstehen brauchen
 
- GebärdensprachdolmetscherInnen: Statt einer klaren gesetzlichen Regelung verweist die Bundesregierung auf alte Paragrafen. Für gehörlose Menschen bleibt medizinische Kommunikation so oft Glückssache.
 
Auch Fachverbände und Selbstvertretungsorganisationen fordern seit Monaten, dass der Aktionsplan endlich mit verbindlichen Standards, Fristen und gesetzlichen Vorgaben umgesetzt wird – von baulicher Barrierefreiheit über technische Ausstattung bis hin zu barrierefreier Kommunikation und verpflichtender Erfassung des tatsächlichen Barrieregrades.
Wenn ärztliche Versorgung über Jahre hinweg ausbleibt, weil Praxen nicht zugänglich sind oder Kommunikation nicht funktioniert, ist das nicht nur diskriminierend, sondern gesundheitsschädigend. Die Bundesregierung muss jetzt handeln: Barrierefreiheit im Gesundheitswesen ist keine Zusatzleistung, sondern Voraussetzung für Prävention, Gesundheit und Teilhabe.
Die Antwort der Bundesregierung zeigt deutlich, dass sie die Umsetzung des Aktionsplans nicht mit der erforderlichen Energie vorantreibt. Es fehlt an konkreten Maßnahmen und Zeitplänen, was die Umsetzung barrierefreier Strukturen erheblich verzögert.
Die fehlende Umsetzung ist ein Schlag ins Gesicht all jener, die am Aktionsplan mitgearbeitet haben. Fachverbände, Selbstvertretungsorganisationen und Expert*innen haben ihr Wissen und ihre Erfahrung eingebracht. Wenn daraus jetzt keine verbindlichen politischen Entscheidungen und Maßnahmen folgen, ist das ein Versagen des Systems. Engagement darf nicht ins Leere laufen, sonst verliert Zivilgesellschaft Vertrauen.
Die Bundesregierung muss jetzt zeigen, dass sie Barrierefreiheit im Gesundheitswesen nicht nur als Prüfauftrag versteht. Viele Menschen warten seit Jahren auf echte Verbesserungen. Wer diese Bedarfe ernst nimmt, braucht klare Ziele, Zuständigkeiten und Mittel, damit Gesundheitsversorgung endlich für alle zugänglich wird.